Berlin Brain Summit |
Interdisziplinäres Gipfeltreffen zu Gehirnerkrankungen legt Basis für Versorgungsstrategien der Zukunft
Erstveröffentlichung:
DOI 10.1055/a-1824-7926
Nervenheilkunde 2022; 41: 623-624
Copyright & Ownership ©2022. Thieme.
Etwa 5 von 10 Krankheiten mit einer hohen Krankheitslast und einem vorzeitigen Versterben gehören zu Erkrankungen des Gehirns. Eine große Herausforderung für die Gesellschaft und Medizin. Vor diesem Hintergrund trafen sich erstmals Vertreter aus Neurologie, Psychiatrie und Pharmazie auf dem Berlin Brain Summit Ende Mai/Anfang Juni zu einem interdisziplinären und berufsübergreifenden Austausch. Ziel war es, eine schnellere Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse in die klinische Praxis zu ermöglichen und so die Basis für eine nachhaltige Versorgung von Patienten mit Erkrankungen des Gehirns zu legen.
Das Virus geht, der Schaden bleibt - unter diesem Motto wurde den Entwicklungen der Corona-Pandemie Rechnung getragen. Denn nicht allein die psychologischen Effekte durch die soziale Isolation wiegen schwer, SARS-CoV-2 greift auch die Nerven an sich an. Es existiert die Hypothese, dass die respiratorische Insuffizienz, die oftmals die Todesursache bei COVID-19 darstellt, unter anderem auf eine virale Invasion des Hirnstamms zurückzuführen sein könnte [1]. In China wurde gezeigt, dass über ein Drittel des hospitalisierten Patienten unter verschiedenen neurologischen Manifestationen litten. Zu den häufigsten zählen u. a. der ischämische Schlaganafall, Enzephalitis, diffuse Enzephalopathie, Psychosen, Störungen des Geruchs- und Geschmacksinns, Kopfschmerzen oder das Guillain-Barre-Syndrom [2, 3]. Vor allem veränderte Bewusstseinszustände kommen bei schwer betroffenen und älteren Patienten gehäuft vor. Allerdings konnten in den meisten Analysen kein Virus und keine Entzündung im Liquor nachgewiesen werden. Weniger schwere neurologische Symptome wie Kopfschmerzen oder eine olfaktorische und gustatorische Dysfunktion können hingegen auch bei leichten Verläufen und nicht hospitalisierten Betroffenen auftreten. Bei 56 % der Patienten traten neuropathische Schmerzen auf, rund ein Viertel litt unter einer vermehrten Schweißbildung und bei etwa 20% kam es zu Störungen des Geruchs- oder Geschmackssinns [4]. Die einzelnen Zusammenhänge werfen noch immer viele Fragen auf und werden die Wissenschaft noch länger beschäftigen. Insbesondere zu den Langzeitfolgen und Schädigungsmechanismen bedarf es genauerer Daten, um substanzielle Implikationen für die Therapie ableiten zu können.
Der Vergesslichkeit auf der Spur
Es tut sich Einiges im Bereich der Alzheimer-Forschung. Neue Therapiestrategien zielen nicht mehr nur auf die Linderung der neuropsychiatrischen Symptome, sondern wollen die Krankheitsprogression verlangsamen. Dafür greifen die Präparate in den Pathomechanismus der Erkrankung ein. Neue Angriffspunkte bieten vor allem die alzheimertypischen Amyloid-Plaques und Tau-Fibrillen. Aber auch die Hemmung gewisser Kinasen und die Förderung der Energieversorgung von Neuronen sind therapeutische Möglichkeiten, die im Rahmen von Phase-III-Studien unter die Lupe genommen werden [5]. Ein Hoffnungsschimmer, denn seit 2002 wurde von der Europäische Arzneimittelagentur EMA kein neues Medikament für die Alzheimer-Therapie zugelassen. Ein weiterer Schwerpunkt der Forschung liegt auf der Früherkennung von Alzheimer. Erste positive Resultate konnten mit einfachen Sprachtests erzielt werden [6]. Weitere Möglichkeiten könnten ein Augenscan und/oder erhöhte Blutwerte bzgl. eines speziellen Tau-Proteins darstellen [7]. Fest steht, dass mit einer klareren Diagnosestellung und somit Abgrenzung gegenüber anderen Demenzformen nicht nur der Forschung in der Patientenselektion für klinische Studien geholfen wäre, sondern auch dem Kliniker im Alltag.
Depression - mehr als eine psychische Erkrankung
Noch immer beschäftigt die Medizin die Frage nach den Ursachen einer Depression und ihrer Symptome. Unterschiedliche Hypothesen werden aufgestellt, korrigiert, verworfen oder bestätigt. So wurde vor ei-niger Zeit der Zusammenhang zwischen Stress und Depression genauer betrachtet. Diese Koppelung ist in der Praxis häufig zu beobachten. Schwedische Forscher konnten ein Protein detektieren, dass im Gehirn sowohl für die Funktion des an der Stimmungsregulierung beteiligten Serotonins als auch für die Ausschüttung von Stresshormonen wichtig zu sein scheint [8]. Das p11-Protein könnte im unbekannten Mechanismus der Chronifizierung von Stress und Entstehung von Depressionen sowie für die inadäquate Stressantwort depressiver Patienten eine wichtige Rolle spielen. Im Mausmodell konnte gezeigt werden, dass die p11-Expression im Gehirn reduziert ist und durch die Gabe von Antidepressiva gesteigert werden kann. Erstmals wiesen die Forscher einen Effekt von p11 auf die Ausschüttung von Kortison, Adrenalin und Noradrenalin nach. Mäuse mit einem p11-Defizit reagierten stärker auf Stress. Ob diese Erkenntnisse auf den Menschen übertragbar sind und in welcher Weise p11 als Target für neue Therapien dienen könnte, muss noch genauer erforscht werden.
Doch auch mit anderen Erkrankungen, die Herzinsuffizienz oder kardiometabolischen Krankheiten ist die Depression eng assoziiert. Dabei zeigen sich sowohl auf genetischer als auch pathobiologischer Ebene Überlappungen zwischen den Erkrankungsgruppen. Hinsichtlich des Behandlungsmanagements sollten daher eine Reihe wichtiger Fakten im Hinterkopf behalten werden. Zum einen sollte bei der Gabe von mehr als 2 Präparaten immer überprüft werden, ob eine Medikamenteninteraktion vorliegen könnte. Bei Herzpatienten sollten zudem trizyklische Antidepressiva vermieden und stattdessen auf Sertalin als SSRI der Wahl gesetzt werden [9]. Allerdings ist bei der Substanzklasse der SSRI Vorsicht bei Patienten mit einer Blutungsvorgeschichte geboten [10]. Hier könnte alternativ Mirtazapin zum Einsatz kommen [11].
Leoni Burggraf, Hamburg
Literatur
[1] Xu Y, et al. Med Sci Monit 2021; 27:e932962
[2] Kaundinya T, Agrawal R. Qual Manag Health Care 2022; 31(2):68-73
[3] Josephson SA, Kamel H. JAMA 2020; 324(12): 1139-40
[4] Ding H, et al. Med Comm 2020; 1(2): 253-256
[5] https://www.vfa.de/de/arzneimittel-forschung/woran-wir-forschen/neue-alzheimer-medikamente-in-entwicklung.html
[6] Eyigoz E, et al. EClinicalMedicine 2020; 28:100583
[7] https://alzheimersnewstoday.
com/2020/09/21 /specifi c-tau-proteinshows-potential-as-blood-biomarker-inearly-studies
[8] Sousa VC, et al. Mol Psychiatry 2021; 26: 3253-3265
[9] Glassman AH, et al. JAMA 2002; 288(6):
701-709
[10] Anglin R, et al. Am J Gastroenterol 2014; 190(6):811-819
[11] Kubiszewski P, et al. JAMA Neurology 2021;78(1 ): 61-67
Quelle: Berlin Brain Summit von 31. Mai 2022 bis 02.Juni 2022, Berlin